Lied, aus dem fahrenden Zug zu singen

Posted on März 19, 2010 von

19


Nachdem das »Lied der Partei« letztens schon bei Autoren und Lesern für feuchte Augen gesorgt hat, habe ich mich als Kulturbeauftragter des Kollektivs entschlossen, künftig in loser Folge das Kulturschaffen der werktätigen Arbeiter, Bauern und Geistesschaffenden zu dokumentieren. Eigens dazu wurde von der Partei die nagelneue Rubrik »Zirkel schreibender Arbeiter« (innerhalb des Kulturbundes) zur Verfügung gestellt.
Den Anfang macht Nationalpreisträger Kurt Demmler, der ja neben seinem unermüdlichen Kulturschaffen auch noch Zeit gefunden hat, die sexuelle Befreiung künftiger Werktätiginnen voranzutreiben und seinen künstlerischen Anspruch »Jeder Mensch kann jeden lieben« auch vorbildlich im eigenen Leben umzusetzen und die vorrevolutionäre »pubertäre Geltungssucht« kleiner Mädchen zum gesamtgesellschaftlichen und persönlichen Nutzen zu kanalisieren. Jedenfalls konnte die Partei, die ihn immer geschützt hatte (»Beim DDR-Plattenlabel Amiga gab es unter Kollegen den Spruch: Wenn ein Mädel fünfzehn ist, ist es zu alt für Kurt.«*) irgendwann nichts mehr für ihn tun, da er sich zunehmend der Konterrevolution angeschlossen hatte:

1976 zählte er zu den Unterzeichnern der Protestresolution, die sich gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann wandte. … Im Wendeherbst 1989 gehörte er zu jenen, die unter die Resolution der Rockmusiker ihren Namen setzten. Bei der großen Demonstration in Ost-Berlin am 4. November 1989 trat Demmler auf dem Alexanderplatz auf und sang seinen Stasi-Spottsong »Irgendeiner ist immer dabei«.

Aber genug der Vorrede:

Lied, aus dem fahrenden Zug zu singen

Der Zug fährt auf stählernen Gleisen,
die haben wir selber gelegt,
dass sie auf den endlosen Reisen
ins Morgen die Richtung uns weisen
und daß unser Zug sich bewegt.

Denn wir müssen alle weiterkommen.
Und da dürfen wir nicht zaghaft sein.
Jedes Ziel, kaum erreicht, ist schon wieder weggeschwommen.
Also, heizt ein!

Der Zug nimmmt auch mit all die Feigen,
die meinen, man zahlt heut nicht mehr.
Die lassen wir kurz mal aussteigen,
nur kurz, und um ihnen zu zeigen:
Schwer läuft sich’s dem Zug hinterher.

Denn wir müssen …

Der Zug macht viel Rauch und Geheule.
Und nachts fährt er mit Funkenflug.
Da grämt sich nur immer die Eule.
Der Zeiten der klapprigen Gäule
und Rindviecher sind nun genug.

Denn wir müssen …

Und doch führt der Zug aus den Zeiten
der Väter manch großes Gepäck.
Es soll in den Wiesen und Weiten
der Zukunft Erinn’rung bereiten
und zeigen: Wir kommen vom Fleck.

Denn wir müssen …

Der Zug jagt den glücklichsten Träumen
der Menschheit mit Macht hinterher,
jagt nach noch in luftlosen Räumen
des Alls, keine Stund’ zu versäumen,
und nähert sich mehr und mehr.

Denn wir müssen alle weiterkommen.
Und da dürfen wir nicht zaghaft sein.
Jedes Ziel, kaum erreicht, ist schon wieder weggeschwommen.
Also, heizt ein!

(Kurt Demmler)

Nun wollte ich natürlich hier noch das Lied in der Aufnahme mit dem legendären Oktoberklub einstellen, aber der Klassenfeind, der sich das revolutionäre Erbe unserer Volksdichter unter den Nagel gerissen hat, um es kommerziell zu verwerten, hat mir einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht:

Dieses Video enthält Content von Sony Music Entertainment. Es ist in deinem Land nicht mehr verfügbar.

Na schön. Wenn Sony erst verstaatlicht ist, wird die Kunst auch wieder dem Volke gehören, so wie unsere Heimat, die Städte und Dörfer und die Bäume im Wald, das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und besonders auch die volkseigenen Vögel in der Luft. Zur Strafe gibt es nun was anderes vom Oktoberklub, genauso schön und auch optisch ein Fest. Man beachte die Gesichter der Studiogäste (also derjenigen, die nur klatschen und nicht singen), und bei denen das sozialistische Bewußtsein zum Teil noch wachsen muß:

Und ehe das auch noch von den Kapitalisten gelöscht wird, schnell noch eins.


* Es gibt übrigens mindestens eine (damals) Fünfzehnjährige, die bezeugen kann, daß das empörender Mumpitz und üble Nachrede ist und Demmler sich durchaus auch für Fünfzehnjährige interessiert hat (vgl. erster Link im Text)!

Photo: © ABV